Eine Reise zu den Königsamazonen

Eine Reise zu den Königsamazonen

Am 26. April 2004 war es so weit: Ich flog für neun Tage nach St. Vincent.  Von Belgien aus ging es über London nach Barbados und anschließend zu dem kleinen karibischen Inselstaat, der Heimat der seltenen Königsamazone (Amazona guildingii), die von der einheimischen Bevölkerung „Vincie“ genannt wird.

Die Gefiederfärbung der Königsamazone ist recht variabel und reicht von einer überwiegend grünen Morphe über eine orangegelbe bis zu einer gelbbraunen Form. Kein Vogel gleicht dem anderen, jeder ist individuell zu erkennen. Eine Erklärung für diese  Bemerkenswerte Variabilität ist mir nicht bekannt. Relativ einheitlich gefärbt ist vor allem die gelblich cremeweiße Stirn- und Scheitelregion. Obwohl es beim Erscheinungsbild fließende Übergänge gibt, kann man die Vögel in vier Farbtypen einteilen: Bei den „gelb-orangefarbenen“ Königsamazonen sind die Flügeldecken gelb, die übrigen Federn überwiegend orangefarben, bei den „gelb-gelbbraunen“ Exemplaren sind die Flügeldecken gelb, die übrigen Federn überwiegend gelblich braun (nur die Brust und der Bauch sind gelblich bis bräunlich grün mit brauner oder schwarzer Säumung). Bei den „grün-braunen“ Exemplaren sind die Flügeldecken grün bis olivgrün, die Brust und der Bauch dunkel zimtbraun, der Rücken tiefolivbraun und die Schwungfedern grün; bei den „grün-grünen“ Exemplaren sind die Flügeldecken grün, die Körperfedern weisen kein Braun auf. Am häufigsten trifft man die „gelb-gelbbraunen“ und die „grün-braunen“ Morphen an. Das Gefieder der Jungvögel ist wie das der Adulten gefärbt, nur deutlich blasser; ihre Iris ist braun, bei den Alttieren orange. Königsamazonen erreichen eine Gesamtlänge von 40 bis 45 cm und eine Körpermasse von 570 bis 700 g, wobei Volierenvögel häufig schwerer sind und 800 g oder noch mehr wiegen. Die Vögel im botanischen Garten der Hauptstadt Kingstown sollen ein Gewicht von 700 g nicht überschreiten, da man sich im Rahmen eines Erhaltungszuchtprogramms von ihnen Nachwuchs erhofft. Für einen Fortpflanzungserfolg sind übergewichtige Vögel dank üppig gefüllter Futternäpfe denkbare ungeeignete Kandidaten. Königsamazonen kommen nur auf St. Vincent vor und hier vor allem im Regenwald des Nationalparks von Vermont in Höhenlagen zwischen 300 m und 700 m ü. NN.

Die Insel, auf der sich ein aktiver Vulkan, der Soufrière, befindet, ist 29 km lang und bis zu 18 km breit. Sie hat ungefähr 110.000 Einwohner. Das Klima auf St. Vincent ist feucht-tropisch mit einer Regenzeit von Juni bis Dezember, wenngleich sie 2004 bereits im April einsetzte und wir bei unserem Besuch einige heftige Regengüsse ertragen mussten. Die mittlere Jahrestemperatur liegt bei 28 °C. Auf St. Vincent gibt es eine Reihe prachtvoller Wasserfälle wie die Trinity Falls, die Dark View Falls und die Falls of Balaine. Touristisch ist die Insel nur wenig erschlossen, und es kann noch keine Rede von einem starken europäischen oder amerikanischen Einfluss sein. Die Königsamazonen zählen heute zu den stark bedrohten Arten. In dem Zuchtprogramm der Regierung sind mittlerweile 784 Vögel registriert worden (1990 waren es 500 Vögel). Das Zentrum des Projekts ist der bekannte botanische Garten in Kingstown. Es war geplant, von hier aus die Wildpopulation durch Zählungen zu erfassen und die Zucht in Menschenobhut anzukurbeln. Legale Haltungen von Königsamazonen außerhalb von St. Vincent gibt es zum Beispiel auf Teneriffa (im Loro Parque),

in den USA und in Deutschland. Wir konnten die Königsamazonen im Freiland von 16 Uhr bis Sonnenuntergang beobachten. Regelmäßig sahen wir kleine Trupps von zwei bis sechs Vögeln, die direkt über unseren Köpfen ein Tal überflogen. Sie halten sich fast ausschließlich in der Kronenregion der Bäume auf. Obwohl Königsamazonen sehr farbenprächtig sind, ist es extrem schwierig, sie inmitten der Blätter zu entdecken. Ihre Tarnung ist perfekt, und ihre Konturen verschmelzen mit den Farben des Laubs. Sie fallen meist erst dann auf, wenn sie lärmend davonfliegen. Dank dieses Verhaltens sind sie aber recht leicht ausfindig zu machen. Der Flug der Königsamazonen ist kraftvoll und direkt, stets begleitet von lauten Rufen. Die Vögel kommen nur äußerst selten auf den Boden. Ihre Nahrung besteht aus einer Vielzahl von Früchten, Samen, Beeren, Knospen, Blüten und Insekten.

Unser Besuch auf St. Vincent fiel in die Brutsaison der Amazonen, die in der Trockenzeit liegt und von etwa Februar bis Ende Juli reicht. Die Nester befinden sich in sehr hohen Bäumen, vorzugsweise in Tabonucos (Dacryodes excelsa), einem Baum aus der Familie der Balsambaumgewächse (Burseraceae). Das Gelege besteht aus ein oder zwei – nur selten aus drei – Eiern, wobei eine Aufzucht von drei Jungtieren im Freiland bisher nicht bekannt ist. Im Alter von fünf bis sechs Jahren pflanzen sich Königsamazonen gewöhnlich erstmals fort. Die lokale Bevölkerung legt auf die Haltung einheimischer Vögel nur wenig Wert. Die Einfuhr lebender Vögel nach St. Vincent ist streng verboten; auf diese Weise will die Regierung das Einschleppen von tödlichen Krankheiten erhindern.

Das Züchten von Vögeln ist auf St. Vincent praktisch unbekannt. Angeblich gibt es auf der Insel nur vier regelmäßige Vogelbeobachter. Die Königsamazonen, die vor 1985 im Besitz von Einwohnern waren, wurden PAPAGEIEN 7/2007

Königsamazonen haben einen kraftvollen Flug von der Regierung legalisiert. Selbst die Zucht ist grundsätzlich mit diesen Vögeln erlaubt, der Verkauf oder die Weitergabe jedoch nicht. Sämtliche Vögel sind Eigentum der Regierung von St. Vincent.

In der Vergangenheit sind mindestens 40 Königsamazonen nach Europa geschmuggelt worden, vermutlich auch nach Deutschland. Auch in den USA dürften eine Reihe von illegal ausgeführten Königsamazonen leben, zum Teil sogar als zahme Heimvögel bei reichen und prestigesüchtigen „Vogelliebhabern“. Eine Rückkehr dieser Vögel nach St. Vincent wird wegen der gesundheitlichen Risiken ausgeschlossen. Sie verbleiben in der Regel bei ihren Besitzern, die sich verpflichten, nicht ohne Rücksprache mit der Regierung von St. Vincent mit den Amazonen zu handeln. Ein Problem auf St. Vincent könnten die Gelbscheitelamazonen (Amazona ochrocephala)darstellen, die in früheren Zeiten eingeführt wurden und später mehrfach entflogen und verwilderten. Man versucht, diese Vögel zu eliminieren, damit es im Freiland nicht zu Hybridisierungen mit den Königsamazonen kommt. 36 km2 von St. Vincent sind derzeit als Reservat ausgewiesen. Es gibt 16 Beobachtungspunkte, an denen man beispielsweise Schulkindern ihre „Vincies“ im Freiland zeigt, um sie für die Belange dieser bedrohten Art zu sensibilisieren. Mittlerweile ist die Königsamazone auch der Nationalvogel von St. Vincent. Die Vögel im botanischen Garten in Kingstown hatten bei unserem Besuch im April 2004 insgesamt drei Junge.

Kurz zuvor war ein Nestling gestorben, weil das Weibchen ihn zu Tode getrampelt hatte. Die Brutdauer beträgt ungefähr 26 Tage, und nach neun bis zehn Wochen fliegen die Jungen aus. In Zukunft sollen die in den Volieren aufgewachsenen Königsamazonen die Freilandpopulation ergänzen. Doch derzeit ist man von Auswilderungsversuchen noch weit entfernt. St. Vincent erhofft sich eine enge Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten Dominica und St. Lucia, auf denen ebenfalls stark bedrohte Amazonenarten vorkommen: die Kaiseramazone (Amazona imperialis) und Blaukopfamazone (A. arausiaca) auf Dominica sowie die  Blaumaskenamazone (A. versicolor) auf St. Lucia.